Dort, wo keine Strasse hinführt, macht auch das Auto keinen Sinn. Zudem ist dieser Ort in rund vier Minuten vom Bahnhof Bellinzona zu erreichen – zu Fuss. Mit der Vision des autofreien Wohnens warben die beiden Tessiner Büros Guidotti Architetti und Archetipo Andrea Frapolli für ihr Projekt. Und waren mit ihrem ökologisch konsequent durchdachten Bauvorhaben vielleicht etwas zu früh unterwegs. Am Ende gewann die Gewohnheit und es mussten doch Parkplätze für die Vierräder und von dort ein Zugang zum Haus her. Dennoch sind Entwurf und Ausführung dieses Bauwerks einer notwendigen Wende im Bauwesen verpflichtet. Denn bezüglich des viel beschworenen nachhaltigen Bauens wird leider viel Greenwashing betrieben.

Das Projekt von Guidotti Architetti und Archetipo Andrea Frapolli scheint über der Landschaft zu schweben.
Dort, wo früher am steilen Hang Weinreben wuchsen, hat sich letztes Jahr der elegant geknickte, längliche Bau niedergelassen, als sei er direkt vom Himmel gefallen. Man braucht nicht einmal eine Adressangabe, um ihn zu finden, so sehr fällt er schon gleich nach der Ankunft am Bahnhof Bellinzona auf. Nach einem kurzen Aufstieg durch kleine Gassen bestätigt sich: Die Lage dieses Bauwerks ist tatsächlich einmalig. Sie vereint die Sicht ins Tal und auf die Berge sowie den Blick auf ein urban-industrielles Gebiet. So unübersehbar die fast futuristisch wirkende Architektur von Weitem ist, so unaufgeregt und reduziert erscheint sie, wenn man sich im Gebäude selbst befindet. Wichtig war den Architekten und der Architektin, personalisierbare Räumlichkeiten zu bieten. Die vier Parteien haben je nach Bedürfnissen unterschiedliche Entscheidungen getroffen.

Benjamin Thut und seine Frau fahren regelmässig nach Bellinzona und unternehmen von dort aus Ausflüge in die benachbarte Natur.
Mobilität als Gestaltungselement
Das Element Stahl ist auch im Innern der hintersten, abgeknickten Wohneinheit stark präsent; die Besitzer, ein Zürcher Paar, beschlossen, das Material nicht zu verstecken. Das passt zu den einfachen und rohen Materialien, die dieses Domizil prägen: eine Decke aus sägerauem Sichtholz und ein schlichter Anhydritboden. Die Küche aus unbehandeltem Aluminium fügt sich ins Bild. Eine Besonderheit sind die Faltfronten von Thut Möbel, die auf beiden Seiten die mittlere Zone mit den Nasszellen von den seitlichen Räumlichkeiten abtrennen. Je nachdem, wie offen oder geschlossen diese mattweissen oder durchsichtigen, vorhangartigen Trennwände sind, erscheinen sie in einer leicht anderen Tonalität.
Das Strukturieren von Räumen durch mobile Wände wird in der Architektur gemeinhin unterschätzt. Diese einfach umzusetzende Massnahme ist nicht nur praktisch zu handhaben, sondern schafft überdies die Möglichkeit, je nach Tageszeit andere Stimmungen zu kreieren. Am Abend seien die Fronten meist zu, sagt Benjamin Thut. Der Designer und Inhaber von Thut Möbel kennt die Gegend seit vielen Jahren. Als es darum ging, eine neue, einfach zu erreichende Liegenschaft im Tessin zu finden, stiess er zufällig im Internet auf das Bauprojekt und war sogleich begeistert. Er und seine Frau sind seit Fertigstellung des Baus häufig in Bellinzona und unternehmen von dort aus Ausflüge in die Natur.

Industriell angehauchte Materialien prägen das Innere des Hauses und dieser Wohnung (im Hintergrund: Faltvorhang von Thut als Raumtrenner)

In der Mitte des lichtdurchfluteten, lang gezogenen Wohnraumes hängt eine drehbare Feuerstelle (Focus).
Bei der Möblierung ist der Thut-Touch deutlich zu spüren. So stammen die Sideboards, Schränke, Betten und der Tisch im Büro aus der Schweizer Möbelmanufaktur. Dass viele dieser Stücke Räder besitzen, betont die Wandelbarkeit dieses ungewöhnlichen Projekts. Die Leichtigkeit der Architektur paart sich hervorragend mit den Entwürfen. Und die Offenheit der Räume erlaubt zahlreiche Blickachsen von Berg zu Tal und zurück. Der südlichste Kanton der Schweiz hat nicht erst mit der weltweit beachteten Tessiner «Tendenza» ein paar architektonische Pionierprojekte hervorgebracht, sondern ist auch heute gut auf Kurs. Der Weg über den Gotthard lohnt sich in jeder Hinsicht – idealerweise ohne Stau.

Die ganze Story und viele weitere spannende Beiträge gibt es in Das Ideale Heim 04/2025 zu lesen.